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Ein Volksstück für Herz und Seele

Schillers „Wilhelm Tell“

Ein Volksstück für Herz und Seele
Schillers „Wilhelm Tell“ wurde seit seiner Uraufführung am 17. März 1804 zum Träger der unterschiedlichsten politischen Botschaften. Doch wer die Verkrustungen der Wirkungsgeschichte aufzulösen vermag, der entdeckt darin ein Stück Weltliteratur.

Wilhelm Tell ist unzweifelhaft einer der großen europäischen Mythen. Was die Bekanntheit und die mediale Präsenz durch die Jahrhunderte anbelangt – in Büchern, auf der Bühne, in der Malerei, später in der Fotografie, im Film, als Werbeträger –, ist der Meisterschütze durchaus vergleichbar mit Robin Hood, Dracula oder Frankenstein. Um 1800 hat sich Friedrich Schiller dem Stoff um Apfelschuß, Tyrannenmord und Freiheitskampf zugewandt und die Geschichte in ihre bis heute gültige Form gegossen – in ein spannungsreiches Drama, dem eine ungeheure Wirkungsgeschichte beschieden war.

Häufig wird davon ausgegangen, Schiller sei der eigentliche Entdecker des Tell-Stoffes gewesen. Doch damit würde man zweierlei verkennen: zum einen, daß die Figur Wilhelm Tell zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens mit Schiller schon einen weiten Weg oder besser: eine lange Geschichte hinter sich hatte, und zum anderen: daß Schiller kein Risiko einging. Im Gegenteil, er hat immer wieder, und so auch beim „Tell“, sein schier untrügliches Gespür für die Wahl publikumswirksamer Stoffe bewiesen. Denn um 1800 war die Geschichte um den Freiheitshelden Tell so populär wie nie zuvor.

Die frühesten Spuren von Wilhelm Tell führen zunächst in den Norden, nach Dänemark. Um 1200 zeichnete der Mönch Saxo Grammaticus dort die Geschichte eines Schützen namens Toko auf, der von einem grausamen Herrscher zur Mutprobe mit einem Apfelschuß gezwungen wird und diesen hinterher aus Rache umbringt.

Diese Sage gelangte über verschlungene Wege in die spätere Kernzone der Eidgenossenschaft, an den Vierwaldstätter See. Fahrende Sänger, Händler, irgend jemand muß den Bericht von Tokos Abenteuern in den Süden mitgebracht haben. Und da geschah etwas Erstaunliches: Die Sage vom nordischen Meisterschützen blieb an diesen Ufern und in diesen Tälern hängen. Es ist, als hätte die Geschichte, nach langer Wanderung, einen ihr angemessenen Schauplatz gefunden, um hier erst ihre volle Wirkung zu entfalten.

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Schon oft ist bemerkt worden, daß dem Vierwaldstätter See mit den steil ins Wasser abfallenden Felswänden und den Schneegipfeln eine genuine Theatralität eigen ist – er ist tatsächlich eine Bühne aus Fels und Wasser, Wald und Himmel. Toko jedenfalls wurde hier zu Thall oder Tell und entwickelte sich unter diesem Namen schnell zu einem Lokalhelden. Sein Heldenschicksal wurde mit den Überlieferungen vom Ursprung der Eidgenossenschaft, also mit den Motiven von Rütlischwur und Burgenbruch, dem legendären Aufstand gegen die habsburgische Herrschaft, verknüpft. Vom späten 15. Jahrhundert an entstanden Chroniken, Lieder, Bilder und Theaterstücke, die von Tells Taten berichten; die Figur verließ damals den Dunstkreis der Mündlichkeit und trat in die Welt der Schriftlichkeit ein. Von nun an reihte sich Zeugnis an Zeugnis, und die Urschweizer Landschaft um den Vierwaldstätter See wurde vom Mythos Tells durchdrungen.

Aber Tells Radius beschränkte sich keineswegs nur auf die Innerschweiz. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelang ihm der Sprung auf das internationale Parkett, von der wilden, abgeschiedenen Bergwelt der Urner Täler nach Frankreich und sogar nach Übersee. Als man im gärenden Paris der Revolutionsjahre auf den Sturz des Königs hinzuarbeiten begann, vermehrten sich die Berufungen auf Wilhelm Tell und seinen Tyrannenmord. Der Innerschweizer Schütze wurde zum bildmächtigen Symbol des Umsturzes. Folgerichtig fiel der Höhepunkt der Tell-Begeisterung in die Zeit der jakobinischen Schreckensherrschaft, in die dramatischste Phase der Revolution, als die Guillotine unablässig arbeitete: Wilhelm Tell aus Uri als Revolutionsheiliger in Paris. Gerade unter An?rufung des Schweizer Helden hielten die Machthaber jede Untat für gerecht?fertigt, während ihres Terrorregimes entfaltete Tell seine volle propagandistische Wirkung. Er war Teil der Symbole und Wahrzeichen der Französischen Revolution geworden.

Weniger bekannt dürfte Tells „Einsatz“ im Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen das Mutterland England sein. Betont wurde dabei vor allem die Wahlverwandtschaft zwischen dem jungen Amerika und der älteren Eidgenossenschaft. Die schweizerische Befreiungstradition galt als Spiegel und Vorbild für die eigene, blutig erkämpfte Unabhängigkeit. Besonders schön visualisiert wird die Idee dieser Verbindung zwischen den beiden Staaten in einem Stich, der die „Helden der alten Freiheit“ zeigt, Washington und Tell, den ersten Präsidenten der USA und den Urner Schützen aus dem Schächental.

Vor diesem Hintergrund ist Schillers Griff nach dem Stoff zu sehen. Der Dramatiker stürzte sich mit großem Eifer in das Studium der Quellen, bestellte Bücher, Landkarten und Kupferstiche, lieh sich Werke aus der großherzoglichen Bibliothek aus, las und notierte, nächtelang. „Ich bin genötigt, viel darüber zu lesen, weil das Locale an diesem Stoffe soviel bedeutet, und ich möchte gern soviel möglich örtliche Motive nehmen“, schrieb Schiller im September 1803 an einen Freund.

Im Lauf der Monate bedeckten sich die Wände von Schillers Weimarer Arbeitszimmer mit Zetteln, Skizzen, Graphiken und Karten, wie Goethe berichtete. Der Dichter tauchte vollkommen ein in die mittelalterliche Welt der Urkantone, holte sich die Landschaft gewissermaßen in seine eigenen vier Wände. An Goethe schrieb er im August 1803: „Ich selbst stehe noch immer auf dem alten Fleck und bewege mich um den Waldstättensee herum.“ In keinem anderen Stück betrieb er einen solchen Aufwand mit der Beschreibung des Handlungsraums. Bei seinem Besuch in der Landschaft Tells stellte der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer im Herbst 2003 fest, daß Schiller die Handlung „durch eine geradezu aufdringlich exakte Topographie“ beglaubigt habe. 150 geographische Angaben zählte er in dem Stück: „Schiller muß mit dem Vergnügen eines Kopfreisenden auf seine Karte geblickt und sich immer erneut geeignete Orte herausgepickt haben. Er macht keine Fehler. Keine Angaben, die sich widersprechen. Die Wege wären abschreitbar.“ Dabei hat Schiller die Schauplätze der Tell-Sage nie mit eigenen Augen gesehen. Zu gerne hätte er, um seinem Handlungsraum noch mehr Dichte zu verleihen, den Urner See, das Rütli, Altdorf und die Hohle Gasse besucht. Aber sein Gesundheitszustand erlaubte es nicht, eine solche Reise zu unternehmen.

Am 17. März 1804 wurde das Stück unter der künstlerischen Leitung Goethes, der als Gesprächspartner und kritischer Leser der einzelnen Akte überhaupt viel zum Gelingen des „Wilhelm Tell“ beigetragen hatte, am Weimarer Hoftheater uraufgeführt. Augenzeugen hielten fest, daß sich auf dem Platz vor dem Theater schon nachmittags um drei die Menschen drängten. Um halb sechs begann die Vorstellung. Der „Wilhelm Tell“ wurde als ein opulentes Stück gegeben, opernhaft in jeder Hinsicht und reich an Effekten. Es sollte, so Schillers Absicht, „als ein Volksstück Herz und Sinne interessieren“. Der Applaus war überwältigend. „Wilhelm Tell“ war nicht nur Schillers letztes vollendetes Drama, sondern auch sein größter Triumph zu Lebzeiten. „Der Tell hat auf dem Theater einen größern Effect als meine andern Stücke, und die Vorstellung hat mir große Freude gemacht. Ich fühle, daß ich nach und nach des theatralischen mächtig werde“, schrieb er gut ein Jahr vor seinem Tod.

Mit der Uraufführung und der Erstausgabe im Dezember desselben Jahres bei Cotta begann der unaufhaltsame, internationale Siegeszug von Schillers „Schweizer“ Schauspiel. Einmal gedruckt, avancierte das Stück schnell zum Reiseführer durch jene Landschaft, die der Dramatiker selbst nie besucht hatte. Zahllose Berühmtheiten, Dichter, Maler, Komponisten unternahmen literarische Pilgerfahrten, unter ihnen Richard Wagner, Franz Liszt, Georg Herwegh, Mark Twain, James Fenimore Cooper und später Elias Canetti. Auch Felix Mendelssohn Bartholdy hatte 1831 den Dramentext im Gepäck: „Eben habe ich mich hier im reizendsten Thal an Schillers ‚Wilhelm Tell‘ wieder gemacht … es ist alles so treu u. so ergreifend wahr: Leben, Leute, Natur u. Landschaft.“

Der „Märchenkönig“ Ludwig II. (siehe DAMALS 2–2005) folgte ebenfalls literarisch geprägten Pfaden, in Begleitung des jungen Hofschauspielers Joseph Kainz. 1885 mietete er den Dampfer „Waldstätter“ gleich für die Dauer seines ganzen Aufenthalts. Er lag mit aufgeheizten Kesseln im Hafen von Brunnen, jederzeit bereit zur Abfahrt. Vor allem in mondhellen Nächten wurden die Tell-Schauplätze aufgesucht. Auf dem Rütli, wo der Überlieferung nach der berühmte Schwur der Urkantone stattgefunden hatte, ließ man sich im Gras nieder. Nun war es an Kainz, den Zauber der Nacht zu erhöhen. Er rezitierte Verse aus Schillers Drama, von denen sein Freund und König nie genug bekommen konnte. Schillers sprachgewaltige Schöpfung hat die Gegend um den Vierwaldstätter See regelrecht mit Bedeutung aufgeladen. Durch Denkmäler und Erinnerungsorte wurde sie im Lauf des 19. Jahrhunderts zur Ideallandschaft der Freiheit umgestaltet: Um das Rütli als Herzstück gruppiert sich eine Reihe von Sehenswürdigkeiten mit Bezug zu Schiller und seinem „Wilhelm Tell“: 1859, anläßlich des 100. Geburtstages des Dramatikers, ging die Rütli-Wiese in den Besitz der Eidgenossenschaft über. Seither ist die Wiese am See unveräußerliches Nationaleigentum, sie gehört allen Schweizerinnen und Schweizern gleichermaßen.

Ein Jahr später wurde eine hochaufragende Felspyramide im Urner See zum „Schillerstein“ umgestaltet, mit einer Inschrift in goldenen Lettern: „Dem Sänger Tells / F. Schiller / Die Urkantone / 1859“. Durch diese beiden Feiern, so Gottfried Keller, „haben die drei Länder der Urschweiz den Unsterblichen förmlich zu ihrem Landsmann gemacht.“

Weitere Attraktionen bilden die Tellskapelle am Urner See, ausgemalt mit den dramatischsten Szenen aus Schillers Stück (1880–1882), das Tell-Denkmal in Altdorf (1895) und das dortige Tellspielhaus (1899/1925) – eine Spielstätte, extra gebaut, um das Freiheitsdrama am Ursprungsort des Stoffes aufzuführen. 1906 wurde der Salondampfer „Schiller“ vom Stapel gelassen, der noch heute im Einsatz ist. Die Hohle Gasse schließlich, Schauplatz von Tells tödlichem Schuß auf Geßler, die im Zeitalter des Automobils zu einer asphaltierten Straße geworden war, wurde 1937 „restauriert“. Oder besser: Man gestaltete sie zu dem um, was man unter einem mittelalterlichen Hohlweg verstand. Dabei diente unter anderem Schillers Bühnenanweisung als Anregung … So hat Schillers „Wilhelm Tell“ in der Geschichts- und Naturszenerie des Vierwaldstätter Sees eine beispiellose wirklichkeitsbil-dende Kraft entwickelt – an kaum einem anderen Ort ist die wechselseitige Durchdringung von Literatur und Landschaft, von Fiktion und Handlungsraum so augenfällig wie im „Lande Tells“.

Doch es würde einen völlig falschen Eindruck erwecken, würde man die Wirkungsgeschichte von Schillers „Wilhelm Tell“ auf diese Form des romantischen Literaturtourismus reduzieren. Das Stück barg genug politischen Sprengstoff für zwei Jahrhunderte. Es ist in unterschiedlichen historischen Momenten zensiert, verboten oder instrumentalisiert wor-den. „Wenn man einmal ein solches Süjet, wie der Wilhelm Tell ist, gewählt hat, so muß man notwendig gewisse Saiten berühren, welche nicht jedem gut ins Ohr klingen.“ Diese prophetische Aussage Schillers, zu Papier gebracht am 14. April 1804, ließe sich als Motto über diese andere, politische Wirkungsgeschichte des „Wilhelm Tell“ schreiben. Fast kann man sagen: Es gab wohl, von der Weimarer Uraufführung abgesehen, keine Bühne, die das Stück so brachte, wie Schiller es geschrieben hatte. Gleichzeitig – und das eine bedingt natürlich das andere – gibt es wahrscheinlich kein Drama, das so anfällig für politische Vereinnahmungen ist. Das gilt für Deutschland wie für die Schweiz.

Während der napoleonischen Herrschaft und der Befreiungskriege war die Gleichung denkbar einfach: Napoleon war Geßler, die Grande Nation rückte an die Stelle des Habsburger-Reiches. Um so donnernder der Applaus in den deutschen Theatern, weil man den Stücktext auf die Situation des eigenen Vaterlandes bezog: „Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!“ (Verse 1285 ff.)

Deutsche Soldaten trugen Schillers Drama auf dem Herzen, wenn sie ins Feld zogen, und vor der Völkerschlacht von Leipzig (1813) rezitierten sie den Rütlischwur aus dem „Wilhelm Tell“. Und noch 100 Jahre später, im Ersten Weltkrieg, bot man den Soldaten „Wilhelm-Tell-Freilichtaufführungen“ direkt hinter der Front – zur Stärkung der Kampfmoral. In Essen wurde am 14. Februar 1923, kurz bevor belgische und französische Truppen das Rhein- und Ruhrgebiet besetzten (vgl. DAMALS 12-2003), Schillers Drama unter begeisterten Kundgebungen der Zuschauer aufgeführt. Am nächsten Tag schlossen französische Truppen das Theater und stellten Wachposten davor auf. Weitere Aufführungen des „Tell“ wurden untersagt. Der Schweizer Literaturhistoriker Walter Muschg (1898–1965) hat diesen ewigen Wechsel von Verbot und Wiederaufnahme bündig zusammengefaßt: Wir hätten „schon deshalb Ursache [diesen Tell] hochzuhalten, weil er noch immer zuerst verboten wird, wenn irgendwo die Freiheit eines Volkes unterdrückt werden soll, und man zuerst ihn wieder spielt, wenn die Befreiung gelungen ist.“

In der Schweiz verlief die Entwicklung geradliniger. „Wilhelm Tell“ genoß im 19. Jahrhundert, nach einigen Anfangsschwierigkeiten, ungeteilte Zustimmung, wurde als Nationalstück verstanden und der Volkskultur einverleibt. Schillers „Tell“ bescheinigte der Schweiz eine stolze Vergangenheit, auf die man sich, gerade in heiklen Phasen, immer wieder beziehen konnte. In der Basler Festrede zum 100. Geburtstag von Schiller (1859) betonte Jacob Burckhardt, daß „dies Drama … zugleich das höchste Geschenk Deutschlands an die Schweiz“ sei.

Es ist interessant, daß das Stück für beide Länder, für Deutschland und für die Schweiz, zum nationalen Schauspiel geworden ist. Dieser Umstand zeigte sich besonders deutlich im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs und in den Kriegsjahren selbst. In Deutschland war Schillers „Tell“ zunächst als „National- und Führerdrama“ hochgeschätzt, doch 1941 realisierte Hitler, daß seine Person durchaus auch mit Geßler gleichgesetzt werden konnte. Er ließ das Drama daraufhin durch einen geheimen Erlaß verbieten: „Der Führer wünscht, daß Schillers Schauspiel Wilhelm Tell nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.“

Zur selben Zeit wurde der „Wilhelm Tell“ in der Schweiz zu einem wichtigen Instrument im Dienst der sogenannten Geistigen Landesverteidigung. Legendär war damals die Aufführung am Zürcher Schauspielhaus, die seit der Premiere im Januar 1939 unablässig auf dem Spielplan stand. Der große Schweizer Schauspieler Heinrich Gretler übernahm den Part des Tell, in der Rolle seines Widersachers Geßler war Wolfgang Langhoff zu sehen – ein aus Deutschland emigrierter Künstler, der vor seiner Flucht in die Schweiz im Konzentrationslager Börgermoor inhaftiert gewesen war. In einer Laudatio erinnerte sich der Dramaturg Kurt Hirschfeld später an Gretlers Tell: „Tausende und Abertausende verstanden durch Dich, was Freiheit, was Humanität, was Toleranz bedeutete. Du warst in diesen Jahren nicht nur ein Schauspieler, Du warst ein politischer Faktor …“

Die Probleme der Schweiz mit dem Nationalmythos und damit auch mit Schillers „Wilhelm Tell“ begannen erst in der Nachkriegszeit. Die jüngere Generation konnte mit dem Pathos der Geistigen Landesverteidigung nur wenig anfangen. Vor dem Hintergrund der jetzt als problematisch empfundenen Selbstinszenierung der Schweiz muß die Ironie gesehen werden, die dem Nationalhelden nun entgegengebracht wurde. Am gründlichsten – und originellsten – ging Max Frisch bei der Mythen-Demontage vor. Sein „Wilhelm Tell für die Schule“ (1971) ist eine Attacke gegen das System des Heldenmythos, nicht gegen Schillers Stück, denn dem erweist Frisch, wie es jede gute Parodie tut, letztlich die Ehre.

In Westdeutschland kam es in der Nachkriegszeit zunächst zu einigen weitgehend werkgetreuen Aufführungen, die zu keinerlei Aufregung Anlaß gaben – und erst dann zu einem Skandal, aber zu was für einem! Hansgünther Heymes Wiesbadener Inszenierung 1966 bedeutete die „Wende“ in der Klassikerrezeption des Westens. Gnadenlos rechnete Heyme, der den Krieg noch als Kind miterlebt hatte, mit der jüngsten deutschen Vergangenheit ab. Gleichzeitig trieb ihn die Frage um, weshalb Schillers Stück sich in so ungeheurem Ausmaß manipulieren und vereinnahmen ließ. Als Antwort manipulierte er den „Wilhelm Tell“ seinerseits, und zwar so, daß es zu einer Umkehrung aller Werte kam. „Der Aufstand der Schweizer“, so wird die Aufführung im Katalog zur Ausstellung „Schillers Dramen 1945 bis 1984“ in Marbach am Neckar beschrieben, „bekam Züge faschistischer Massenhysterie, ihr demagogischer Einpeitscher Stauffacher war in die Nähe von Goebbels gerückt, dem Rütli-Schwur wurde die Melodie des ‚Horst-Wessel-Liedes‘ unterlegt, … und der Mord des rohen Asozialen Tell an Geßler wurde zum Auftakt einer Serie von chauvinistisch motivierten Gewalttaten der nun vollends hemmungslosen und nicht mehr kontrollierbaren Masse“. Das Schlußtableau schließlich geriet zu einer Travestie der Machtübernahme von 1933.

Mit Schillers „Wilhelm Tell“ ist so ziemlich alles gemacht worden, was man mit einem Stück auf der Bühne machen kann. Es wurde vermeintlich werkgetreu aufgeführt, es wurde zum Prüfstein der Moderne, zum Träger politischer Botschaften jedweder Couleur, in der pathosfeindlichen Nachkriegszeit wurde es in Deutschland wie in der Schweiz demontiert, es wurde banalisiert und verkalauert. Und weil alles gemacht worden ist, herrscht nun, ganz folgerichtig, eine gewisse Ratlosigkeit im Umgang mit diesem Klassiker. Doch wem es gelingt, die Verkrustungen der Wirkungsgeschichte aufzulösen, der entdeckt darunter nichts Geringeres als ein Stück Weltliteratur: unvergleichlich in der sprachlichen Brillanz und Prägnanz, in der dramaturgischen Raffinesse, im Facettenreichtum der Charaktere, die viel mehr Ecken und Kanten aufweisen, als es die Schwarz-Weiß-Malerei der politischen Wirkungsgeschichte je vermuten ließe.

Literatur: Barbara Piatti, Tells Theater. Eine Kulturgeschichte in fünf Akten zu Friedrich Schillers Wilhelm Tell. Basel 2004.

Barbara Piatti

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