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Ein schwieriger Lernprozess

Pest und Politik in der europäischen Neuzeit

Ein schwieriger Lernprozess
Die Pest hemmte den freien Handel und schadete dem Geschäft. So sahen es viele Kaufleute und zögerten die Deklaration der Epidemie hinaus, so lange es ging. Im muslimischen Ägypten verhinderte religiös bedingter Fatalismus die Bekämpfung der Pest; im christlichen Abendland waren Prozessionen potentielle Ansteckungsherde.

Die Pest forderte auch nach 1500 weiter ihren Tribut: Etwa alle 15 Jahre kehrte sie zurück und hemmte das Bevölkerungswachstum in Europa jährlich um etwa 0,5 Prozent. In den 1630er Jahren führte sie in Italien nach einem Bevölkerungsverlust von rund einem Drittel sogar zur Reagrarisierung dieses Landes. Die Pestzüge endeten erst 1669 in Deutschland, 1720 in Frankreich (Marseille), 1747 auf dem Balkan (Debrecen) und 1771 in Russland. Inwiefern die weitgehend aus dem Mittelalter übernommenen Maßnahmen zur Pestbekämpfung dazu überhaupt beigetragen haben, ist umstritten – Änderungen bei den Überträgern sind eine Alterna-tiverklärung.

Hier soll Pestbekämpfung zunächst als Versuch betrachtet werden, gesellschaftliche Ordnung herzustellen. Schon mit der Wahrnehmung der Pest ließ sich gut Politik machen. So brachte die seit um 1500 zunehmende Konkurrenz der europäischen Mächte viele italienische Territorien unter fremde Herrschaft. In Pestzeiten bot dieser Verlust an Selbstbestimmung Anlass zu Gerüchten. Wollten die jeweiligen Besatzungsmächte nicht durch Einschleppen der Pest die unterworfenen Gebiete schwächen, um sie leichter beherrschen zu können? In Mailand unterstellte man das 1630 den Spaniern. Die neapo-litanische Oberschicht lenkte vorsorglich 1656 auf die Franzosen als Urheber ab.

Seit der Reformation erhob man solche Vorwürfe auch gegen Angehörige der jeweils anderen Konfessionen. So kam in dem calvinistischen Genf 1530 das Gerücht auf, dass Andersgläubige die Pest einschleppen wollten. 1628 bezichtigten katholische Prediger in Lyon die protestantischen Minderheiten des gleichen Verbrechens. Griechisch-Orthodoxe beschuldigten noch 1756 in Patras jüdische Familien der Verbreitung der Pest und ließen sie, eingemauert in der Stadtbefestigung, verhungern. In Ost- und Südosteu‧ropa hielten sich diese Vorwürfe gegen die Juden in der frühen Neuzeit länger, während sie in Mitteleuropa damals nur noch auf die fahrenden Juden – wie auf Trödelhändler überhaupt – bezogen wurden.

Schon im Mittelalter hatte man den Armen besondere Sündhaftigkeit unterstellt, welche die Pest angeblich als Gottesstrafe herausfordere. Gestützt wurden solche Zuschreibungen durch die Beobachtung, dass die Pest häufig in den ärmsten Vierteln ausbrach, wo Kleinhändler oder Landstreicher sie einschleppten. Schlechte Wohnverhältnisse und große Müllhaufen boten Ratten und Flöhen gute Übertragungsbedingungen. So wies man beim Ausbruch der Krankheit oft als Erstes die in diesen Stadtteilen lebenden Migranten aus. Anderenorts mussten diese in der Armut lebenden Fremdlinge die unangenehmsten Aufgaben der Pestbekämpfung übernehmen: Leichentransporte, Totengräberei und Lazarettpflege. Dabei kam es zu Diebstählen oder Erpressung durch Nahrungsentzug. Mancher Pestarbeiter erhoffte sich vom Fortdauern der Seuche weitere Geschäfte – und glaubte, mit Salben, die Substanzen von Infizierten enthielten, die Pest weiter verbreiten zu können.

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Die europäischen Obrigkeiten hielten sich seit dem ausgehenden Mittelalter für verpflichtet, die Pest aktiv einzudämmen. Im Christentum war der Stellenwert jenseitiger Pestursachen unumstritten. Dass es aber auch beeinflussbare Ursachen der Pest gab, wurde schnell erkannt. Menschenleben nicht zu retten wäre eine Sünde gewesen. Außerdem waren italienische Stadtrepubliken oder deutsche Territorien gesellschaftlich nie so fragmentiert wie das Ägypten der Osmanen. Eliten mussten in Europa die Probleme anpacken, wenn sie an der Macht bleiben wollten. Schließlich konnten noch die ärmsten Christenmenschen an die Schutzpflicht ihrer Obrigkeiten appellieren. In Europa bestand für die Pestbekämpfung ein Primat der Politik.

Diese Denkweise unterschied sich grundlegend von den Vorstellungen am Südrand des Mittelmeers. In Kairo zog sich die aus Zentralasien stammende Kriegerkaste beim ersten Auftauchen der Pest auf ihre Festung zurück. Die islamisierten Stadtbewohner akzeptierten das Peststerben als Werk Gottes, versorgten infizierte Familienmitglieder weiter und beerdigten sie mit großer Begleitung, wodurch die Epidemie weiter ausgebreitet wurde. Die Fellachen tendierten wie die koptischen Christen ebenfalls zum Fatalismus, während sich die jüdischen Kaufleute in gut versorgte Privathäuser zurückzogen und die Nomaden während des Seuchenzugs bewohnte Gebiete mieden. So gab es keine Eliten für die Pestbekämpfung. Dies blieb auch unter der Osmanenherrschaft bis zur ersten Schiffsquarantäne 1812 (!) in Alexandria so.

In der Neuzeit entstanden ethische Maßstäbe für die christlichen Obrigkeiten. Der Reformator Martin Luther unterstrich deren besondere Verantwortlichkeit und warnte – wie später der Mailänder Kardinal Karl Borromäus – die Amtsträger vor der Flucht. Entsprechende, kontrollierte Selbstverpflichtungen der Ratsherren sind 1549 für Hildesheim, 1576 für Venedig und später für Barcelona belegt. Der Barceloneser Gerbermeister Miquel Parets kritisierte 1651 trotzdem die Raffgier der Reichen als Pestursache, geißelte die Spekulation mit Lebensmitteln während des Seuchenzugs und die Zustände im Pesthaus. Auch warf er dem Stadtrat vor, aus Handelsegoismus die Deklaration der Pest verzögert zu haben.

Dies geschah ebenso in oberdeutschen Reichsstädten oder in der Schweiz: Kaufleute zogen es überall vor, den Handel möglichst lang aufrechtzuerhalten. Innerstädtisch gingen Patrizier nach der Feststellung des Pestausbruchs aber hart gegen Handwerker vor, die in ihrer Werkstatt übernachteten. Diese wollten dadurch einer Ansteckung in der Familienwohnung vorbeugen. Stattdessen sorgten sie mit der Werkstattübernachtung für die eigene Gesundheit und ihr Einkommen. Wie die Stadtherren wollten auch sie so lang wie möglich weiterverdienen.

Neben den weltlichen Obrigkeiten bot die Kirche Heilsmittel zur Pestbewältigung, von Gottesdiensten bis zu kirchlichen Begräbnissen, an. In Mailand hoffte man 1630, den Seuchenausbruch durch eine Prozession zu verhindern, die stattdessen die Ansteckungszahlen hochtrieb. Nur wenige Zeitgenossen verstanden, warum nach der Pestdeklaration diese Riten verboten wurden. Selbst engagierte Kirchenfürsten wie Karl Borromäus (1538–1584) gerieten innerkirchlich wegen Prozessionen in die Kritik. Trotzdem veranstalteten weltliche Obrigkeit und Kirchenführung in besonders verzweifelten Lagen, etwa 1656 in Genua, gemeinsam Bittprozessionen zum Stadtpatron. Häufiger waren schon damals Gelöbnisse von Wallfahrten oder Kirchenbauten für die Zeit nach der Pest. Im lutherischen oder anglikanischen Staats‧kirchentum hatte die Obrigkeit allein das Sagen.

Die Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem Land, wo selbst dünnbesiedelte Landstriche von Pestzügen erfasst wurden. Die Seuche konnte große Teile der Bevölkerung dahinraffen, wie wir etwa aus Südwestdeutschland und Südschweden wissen. Bei den europäischen Vorreitern der Pesteindämmung in Italien gab es noch 1576 auf dem Land keinerlei Kontrollen. So reiste der deutsche Kaufmannssohn Paul II Behaim in der Umgebung von Padua ohne Einschränkungen. Aus einem sächsischen Dorf ist 1585 eine Hausquarantäne für infizierte Dorfbewohner belegt. In Thusis an der Straße zum Julierpass zogen sich 1629 die Bewohner aus dem infizierten Ortszentrum in Scheunen am Ortsrand und in der Umgebung zurück. In Nordtirol sperrten die Dorfbewohner 1611 den Zugang zu den Seitentälern ab, was Städter und Wanderarbeiter störte. Die Stubaitaler verboten Lebensmittelexporte, um so die eigene Versorgung abzusichern. Bei Todesfällen wegen der Pest bestand die Einwohnerschaft auf der Verbrennung des Bettzeugs der Verstorbenen. Zumindest in dieser Region wurden also zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Standardmaßnahmen städtischer Seuchenbekämpfung ergriffen, die schon aus dem Mittelalter stammten. Auch in Katalonien errichteten 1651 viele Dörfer Straßensperren, vereinzelt im 18. Jahrhundert auch in Russland. Nördlich von Sofia wurden nach der Pest von 1758 bis 1763 26 Dörfer an benachbarten Orten neu aufgebaut. Die Durchsetzung von Zwang war aber auf dem Dorf wegen des Konsensprinzips schwieriger als in der Stadt…

Literatur: Martin Dinges / Thomas Schlich (Hrsg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart 1995.

Prof. Dr. Martin Dinges

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