War das Mittelalter eine fremde, unergründliche Welt oder uns doch eigentlich sehr nahe? Wor‧an lag es, dass das Mittelalter in der Romantik neu entdeckt wurde, und welches Interesse am Mittelalter gibt es heute? Peter Raedts, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Nijmegen, möchte verdeutlichen, dass das Mittelalter für unsere moderne Welt in gleichem Maß prägend war wie die Antike, für die man dies aber viel selbstverständlicher annimmt. Als Grund für diese Haltung macht der Autor das humanistische Verdikt über das Mittelalters aus, das bis heute nachwirke.
Raedts taucht tief ein in die Forschungsgeschichte und legt die verschiedenen Mittelalter-Konstruktionen frei. Im 17. Jahrhundert begann man im Streit um die richtige antike Überlieferung zu entdecken, dass Europa neben der römischen, der mediterranen Vergangenheit auch eine mittelalterliche, nördliche besaß. Johann Gottfried Herders Schriften sieht Raedts dann als wichtigsten Beitrag zu einer Aufwertung des Mittelalters an, auf die sich die Romantiker beziehen konnten. Es entstand eine Mittelalter-Vorstellung, die immer mehr zum Gegenbild der modernen Gesellschaft mutierte: als Zeit, in der die Nation entstanden sei, zu der man gehören wollte, in der das Christentum Sinn gestiftet und die Gemeinschaft über den Individualismus triumphiert habe. Ein lesens‧wertes, manchmal provokantes Buch, das dazu auffordert, das eigene Mittelalter-Bild kritisch zu hinterfragen.
Rezension: Dr. Heike Talkenberger