Braucht man ein weiteres Buch über die griechisch-römische Religion? Ja, und zwar diesen vorliegenden Essay des großen französischen Althistorikers Paul Veyne. Gewiss stellt es keine Einführung in das Thema für all jene dar, die sich erst einmal über Götter, Riten und Feste informieren wollen. Im Gegenteil, man sollte schon gewisse Vorkenntnisse haben. Aber mit seinem Gedankenreichtum, seiner Vielfalt, seiner diskursiven Tiefe und Quellenorientierung führt das Buch zu den Kernfragen von Religion und Gesellschaft auch über die Antike hinaus.
Es beginnt mit einem entscheidenden Postulat: Die griechisch-römische Religion kennt anders als monotheistische Religionen keine echte Beziehung zwischen Religion und Moral. Diese „heidnische Unterscheidung“ ermöglicht nun, zu ihrem Wesen vorzudringen: frei von Druck, von Intoleranz, von Verboten, von messianischen oder politischen Implikationen einerseits, doch auch wenig trostbietend andererseits.
Der erste Teil des Essays behandelt die Vorstellungen der Menschen von den Göttern. Religiöse Gefühle gehören zum Wesen des Menschen, aber die Moral ist im Paganismus kein Wesenselement der Religion. So können einzelne Götter, die menschlich konstruiert sind, zum Teil eklatante Schwächen haben.
Für die politischen Gemeinschaften spielte Religion eine wichtige Rolle, aber es bestand kein Zwang für den Einzelbürger, dieselbe Gottheit wie bei einer „Staatsreligion“ zu verehren – nur die Polis als Ganzes war in ihrem Handeln dazu verpflichtet. Den Begriff des „Ungläubigen“ könnten die antiken Gesellschaften nach Veyne also nicht geprägt haben; die griechische Form des Atheismus sei eher „Gleichgültigkeit“ gewesen. Allerdings machte die griechisch-römische Religion eine Entwicklung durch, die letztlich in einen latenten Monotheismus führte.
Man findet immer wieder in diesem gut übersetzten Buch Belege für die Fähigkeit seines Autors, seine Thesen klar zu formulieren, Vergleiche heranzuziehen, sogar aus eigenem persönlichen Erleben zu berichten und über alle disziplinären Grenzen hinweg zu argumentieren. Ein solches Buch kann nur aus der Erfahrung eines fruchtbaren Forscherlebens heraus geschrieben werden. Folgen wir also der Aufforderung Christian Meiers: „Man muss es zur Kenntnis nehmen“.
Rezension: Baltrusch, Ernst