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Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg – Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur

Leingang, Oxane

Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg – Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur

Anatolij Pristavkin starb im Juli 2008 in Moskau. Der erfolgreiche Schriftsteller, dessen Werk von den Kriegserfahrungen seiner Kindheit geprägt ist, galt als prominenter Vertreter der Generation der russischen Kriegskinder. Genau wie Pristavkin – wenn auch weitaus weniger bekannt – schrieben vor allem in den letzten Jahrzehnten ihres Lebens viele frühere Kriegskinder ihre Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf.

Mit diesen wertvollen Zeugnissen beschäftigt sich die Philologin Oxane Leingang in ihrer Dissertation. Sie geht darin der Frage nach, wie die Kriegskinder mit ihren Erlebnissen als Erwachsene literarisch umgingen. Dabei interessiert sich die Autorin vor allem dafür, inwiefern die individuellen Sinngebungen dieser Generation dem offiziellen russischem Nationalgedächtnis wider- oder ihm entsprechen.

Leingang analysiert über 20 verschiedene autobiographische Werke ehemaliger russischer Kriegskinder, die – neben einigen bekannten Schriften, wie etwa die Pristavkins – bisher meist noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Ihre Darstellung ordnet die Autorin nach den verschiedenen Rollen, die die Kinder im Krieg einnahmen: So behandeln drei der sieben Kapitel des Hauptteils beispielsweise die Erfahrungen von Waisenkindern sowie von Kindern, die den Krieg als Soldaten oder auch als sogenannte „Ostarbeiter“ in Deutschland erlebten. Zum einen erhält der Leser dadurch Einblicke in die verschiedenen Kriegskindheiten. Bewegende Schilderungen wie die der Valentina Nefedova, die als Mädchen die Kämpfe um Stalingrad miterlebte, schaffen eine große Nähe zu den Autoren. Zum anderen erfährt man bei der Lektüre insbesondere aber auch etwas darüber, wie sich die individuelle Auseinandersetzung der Betroffenen mit ihren Kriegserfahrungen zur staatlich vorgegebenen Erinnerungskultur in Russland verhält. Diese betont bis heute vor allem die ruhmreichen und heroischen Aspekte des „Großen Vaterländischen Kriegs“, wie der Zweite Weltkrieg bezeichnet wird. Eigene Verbrechen oder auch das Leid der Zivilisten werden ausgeblendet. Tatsächlich orientieren sich von den untersuchten Autobiographien viele an der offiziellen Gedächtniskultur. Nur wenige Darstellungen wenden sich gegen die vorherrschende Interpretationen: So versuchen einige Autoren in ihren Schriften den Opfern eine Stimme zu geben und deren Schicksale als Gegenbild zur dominierenden Heldenverehrung zu positionieren. Ein Beispiel dafür ist Tatjana Vasil’eva, die als „Ostarbeiterin“ nach ihrer Rückkehr mit der Verurteilung als „Vaterlandsverräterin“ leben musste und die fehlende Anerkennung als Opfer des Krieges in der Niederschrift ihrer Erinnerung kritisierte.

Insgesamt ist Leingang mit ihrer Dissertation eine anspruchsvolle Studie gelungen, die mit ihrem Fokus auf Russland eine Lücke in der seit den 1980er Jahren zunehmenden Forschung zur Erinnerungskultur und den Erfahrungen von Kriegskindern schließt. Die von der Autorin getroffene Materialauswahl ist äußerst interessant, mit der nicht ganz einfachen Quellengattung der Autobiographie geht sie souverän um. Fachkundig ordnet Leingang die Erinnerungsliteratur vor dem historischen Hintergrund der nationalen russischen Gedächtniskultur ein. Nur selten verliert die Autorin ihr eigentliches Vorhaben aus den Augen, etwa, wenn sie sich zu sehr auf die Nacherzählung der Kriegserlebnisse beschränkt. Durch eine deutlichere Herausarbeitung der eigentlichen Erkenntnisse und deren Wert in einem größeren Zusammenhang hätte sie dem stärker vorbeugen können. Auf jeden Fall stellt die Dissertation für ein wissenschaftlich interessiertes Publikum einen spannenden Beitrag dazu dar, wie Menschen, die in Kriegszeiten aufwachsen, während ihres restlichen Lebens mit den oft von Not und Gewalt geprägten Erinnerungen umgehen.

Rezension: Liza Soutschek

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Leingang, Oxane
Sowjetische Kindheit im Zweiten Weltkrieg – Generationsentwürfe im Kontext nationaler Erinnerungskultur
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2014, 324 Seiten, Buchpreis € 48,00
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