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Die dunkle Seite der Nationalstaaten – „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa

Philipp Ther

Die dunkle Seite der Nationalstaaten – „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa

Philipp Ther beschäftigt sich mit sicherlich einer der dunkelsten Seiten der Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts. In seiner Studie möchte der Wiener Historiker ethnische Säuberungen als ein gesamteuropäisches Phänomen des 20. Jahrhunderts beschreiben. Für Ther sind ethnische Säuberungen ein Kind des Nationalstaates und damit ein zentraler Bestandteil der europäischen Moderne. „Diese menschenverachtende Praxis war keine Erfindung der von Diktatoren oder ein Unfall der Geschichte, sie ging aus den Grundlagen des heutigen Europas und seiner nationalstaatlichen Ordnung hervor“, so der Autor.

Um den direkten Zusammenhang zwischen der nationalstaatlichen Ordnung und ethnischen Säuberungen deutlich zu machen, schickt Ther seiner Studie ein ausführliches Kapitel über die langfristigen Voraussetzungen der staatlich organisierten Gewalt gegen Minderheiten voraus. Er zeigt, wie verschiedene Nationsvorstellungen des 19. Jahrhunderts auf dem Ideal einer ethnischen Homogenität fußten. Minderheiten wurden als Hindernisse der Entwicklung des Nationalstaates wahrgenommen. Die Folge war eine reisbrettartig geplante Bevölkerungspolitik der europäischen Großmächte. Im 20. Jahrhundert wurden diese bereits in der Theorie angelegten Überlegungen schließlich auch praktisch umgesetzt. Ther stellt nicht die Opfer oder die unmittelbaren Täter ethnischer Säuberung in den Mittelpunkt. Er konzentriert sich auf die Akteure der internationalen Politik und deren Motivation. Weder irrationaler Hass noch Rachegefühle erscheinen als die bestimmenden Triebkräfte von Flucht und Vertreibung. Es sind die ordnungspolitischen Gedankengebäude, die den systematischen Planungen in europäischen Konferenzräumen zu Grunde lagen. Ob in den Deportationen und Zwangsmigrationen während und nach dem Ersten Weltkrieg, ob auf dem „Rangierbahnhof“ Europa während der nationalsozialistischen „Neuordnung“ des Kontinents oder in den Flüchtlingsströmen, die die territoriale und demographische Umgestaltung des ganzen Kontinents seit 1944 zur Folge hatten – in allen untersuchten Perioden zeigt sich ein einheitliches Motiv: Staatlich organisierte Bevölkerungspolitik und internationale vertragliche Regelungen bremsten diese menschenverachtende Praxis nicht, sondern führten unter dem Denkmantel technokratischer Begriffe wie „Bevölkerungsaustausch“, „Entmischung“ oder „Bevölkerungstransfer“ zu einer erheblichen Ausweitung der ethnischen Säuberungen. Millionen von Griechen und Türken verloren im Bevölkerungsaustausch in den 1920er Jahre ihre Existenz. Allein 2,5 Millionen Menschen wurden von 1935 bis 1944 innerhalb der Sowjetunion deportiert. Die 420 000 Finnen und 2,1 Millionen vertrieben Polen aus der Sowjetunion, die 650 000 Ukrainer aus und innerhalb Polens sowie die Millionen von Deutschen, die in Ostmitteleuropa Opfer ethnischer Säuberungen wurden, sind nur ein Bruchteil aller registrierten Fällen. Die räumliche Ausuferung und die steigende Totalität ethnischer Säuberungen ließen die Flüchtlingszahlen im Laufe des 20. Jahrhunderts fast exponentiell ansteigen. Am Ende steht die erdrückende Zahl von mindesten 30 Millionen Menschen, die über das Jahrhundert hinweg zumindest zeitweise ihre Heimat aufgeben mussten oder gar den Tod fanden. Erst die Greueltaten während des Krieges in Bosnien und Herzegowina im letzten Jahrzehnt des zurückliegenden Jahrhunderts erzeugten einen internationalen Konsens gegen ethnische Säuberungen.

Auf Empathie mit den Opfern ist das rein sachlich orientierte Grundlagenwerk nicht aus. Dafür schafft es die Studie, die vielfältigsten Ausprägungen ethnischer Säuberungen in den verschiedensten Regionen Europas über ein Jahrhundert hinweg in einem Werk zu bündeln – auch wenn dem Leser bei dieser Tour de Force über den Kontinent öfters droht, die Orientierung zu verlieren.

Rezension: Alexander Schmid

Philipp Ther
Die dunkle Seite der Nationalstaaten – „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, 304 Seiten, Buchpreis € 39,95
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