Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Gulag-Kinder – Die vergessenen Opfer

Stark, Meinhard

Gulag-Kinder – Die vergessenen Opfer

Tanja Sagorje war noch ein Baby, als das „Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten“ (NKWD) im August 1937 zunächst ihren Vater, sechs Monat später auch ihre Mutter in einem Moskauer Vorort verhaften ließ. Der Vater wurde erschossen, die Mutter musste acht Jahre im Gulag zubringen. Sie selbst wurde in ein speziell für Kinder von „Vaterlandsverrätern“ vorgesehenes Kinderheim gebracht. Erst nach neun Jahren sahen sich Mutter und Tochter in der Verbannung wieder.

Das Schicksal Tanjas ist kein Einzelfall. Hunderttausenden im kommunistischen Osteuropa lebenden Mädchen und Jungen war vor allem in den 1930er bis 1950er Jahren ein ähnliches Schicksal beschieden, wenn deren Eltern als „Volksfeinde“ eingestuft wurden. Sie wurden in Sippenhaft genommen. Insgesamt 92 dieser Lebensgeschichten hat der promovierte Historiker Meinhard Stark in dem Buch „Gulag-Kinder. Die vergessenen Opfer“ in bereits bewährter Manier zusammengetragen und aufbereitet. Auf Basis von Zeitzeugengesprächen veröffentlichte er zuvor zwei Studien zu den Themen Frauen im Gulag und Gulag-Häftlinge nach deren Entlassung.

Neben russischen Betroffenen lässt der Autor litauische, deutsche und polnische Opfer kommunistischer Regime in Gesprächen und Ego-Dokumenten zu Wort kommen. Unter ihnen finden sich so bekannte Namen wie der Joachim Gaucks, des jetzigen deutschen Bundespräsidenten, oder aber Arseni Roginskis, des Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation „Memorial“. Insgesamt setzt Stark, der das erklärte Ziel verfolgt, eine „Annäherung an die Erfahrung der Gulag-Kinder“ zu ermöglichen, auf ein breites Spektrum an Zeitzeugen. Sie unterscheiden sich neben ihrem nationalen Hintergrund auch hinsichtlich ihres biologischen Alters – die älteste Zeitzeugin wurde 1918, die jüngste erst 1980 geboren – sowie des Alters, in dem sie das erste Mal mit dem sowjetischen System von Straf- und Arbeitslagern bzw. staatlichen Repressionen in Berührung kamen. Einige der Befragten haben ihre inhaftierten Eltern nie kennengelernt. Sie wuchsen als „Vollwaisen“ in speziellen Kinderheimen auf. Andere Kinder sogenannter Volksfeinde wurden wiederum zur Zwangsadoption freigegeben. Wieder andere wurden, noch minderjährig, selbst zu Lagerhaft verurteilt. Überzeugend zeigt Stark, dass sich durch diese Polyphonie der Stimmen „Kontinuitäten wie Modifizierungen erfahrener Repressionen“ aufzeigen lassen, so auch lokale Spezifika im Umgang mit angeblichen Staatsfeinden. Beispielsweise wurde die Sippenhaft in der DDR im Vergleich zur Sowjetunion in vielen Fällen weniger streng gehandhabt.

Es ist gerade dies die Stärke des Buches, dass es nicht auf das Herausschälen „idealtypischer“ Biographien von Gulag-Kindern (übrigens eine sprachliche Neuprägung Starks) zielt, sondern die Individualität jedes Lebensweges betont. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies im Epilog, in dem einige der Befragten abschließend die Relevanz der Verfolgungsjahre für ihre persönliche Entwicklung beurteilen und dabei höchst ambivalente Einschätzungen liefern. Einig sind sie sich nur darin, dass ihre Erfahrungen nicht dem Vergessen anheimfallen sollen. Deren Dokumentation durch Stark ist ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg, der vor dem Hintergrund einer in Deutschland grassierenden „Ostalgie“ und des Wiedererstarkens des Stalin-Kultes in Russland höchste Aktualität besitzt und kritische Akzente setzen kann.

Rezension: Verena Mink

Anzeige
Stark, Meinhard
Gulag-Kinder – Die vergessenen Opfer
Metropol Verlag, Berlin 2013, 486 Seiten, Buchpreis € 24,00
Anzeige
DAMALS | Aktuelles Heft
Bildband DAMALS Galerie
Der Podcast zur Geschichte

Geschichten von Alexander dem Großen bis ins 21. Jahrhundert. 2x im Monat reden zwei Historiker über ein Thema aus der Geschichte. In Kooperation mit DAMALS - Das Magazin für Geschichte.
Hören Sie hier die aktuelle Episode:
 
Anzeige
Wissenschaftslexikon

Ve|ge|ta|ri|a|nis|mus  〈[ve–] m.; –; unz.; selten〉 = Vegetarismus

An|ti|to|xin  〈n. 11; Med.〉 im Blutserum enthaltener Antikörper [<grch. anti … mehr

P  1 〈Zeichen für〉 1.1 〈Chem.〉 Phosphor  1.2 〈Phys.; veraltet〉 Poise … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige