„Zeitalter der Extreme“, „radikales Zeitalter“, „schrecklichstes Jahrhundert der Weltgeschichte“: So wurde das 20. Jahrhundert vielfach bezeichnet. Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum geht in seinem spannend zu lesenden Überblick davon aus, dass sich die Welt dieser Zeit in einem Zwiespalt befand: Neben Katastrophen von zuvor unvorstellbarem Ausmaß gab es auch eindrucksvolle Triumphe, Erträge und Fortschritte auf vielen Ebenen. Räumlich und zeitlich verlief diese positive Entwicklung sehr unterschiedlich. Während die erste Hälfte charakterisiert war durch Bemühungen, die moderne Welt zu harmonisieren, dominierten Aufbrüche und Pluralisierung die zweite Hälfte. Doch auch diese Entwicklungen blieben ambivalent – wachsender Wohlstand stand neben gravierenden Umweltproblemen, mediale Vielfalt neben Zensur.
In vier Teilen werden der Komplex Macht und Herrschaft (politische Systeme und Kriege), gesellschaftliche Entwicklungen (Natur und Medizin, aber auch Vertreibungen und Genozide), Kultur (Kunst, Religionen und Wissen) sowie Wirtschaft (Demographie, Ernährung und Technik) dargestellt. Weiterführende Literaturhinweise ermöglichen eine Vertiefung der angeschnittenen Themen.
Wolfrum schreibt bewusst aus einer europäischen Perspektive – über Lateinamerika, Zentralasien und Australien erfährt man wenig. Da er nicht den Anspruch erhebt, ein umfassendes Handbuch vorzulegen, bietet ihm dieser Freiraum die Möglichkeit, zu fokussieren und Schneisen durch den dichten Faktendschungel zu schlagen. Es gelingt ihm, das Wesentliche geschickt zu komprimieren.
Dabei bedient er sich eines nützlichen Stilmittels: Er kombiniert allseits bekannte Ereignisse mit vermeintlich Nebensächlichem und breitet so klar strukturiert eine Fülle von Details aus, ohne den Überblick zu verlieren. Mit Recht hebt Wolfrum die Wechselwirkungen von Lokalem und Globalem, Nationalem und Transnationalem hervor.
„Ungeheure menschliche Errungenschaften begegneten uns auf der einen Seite, beispiellose menschliche Barbarei auf der anderen“, resümiert er abschließend sein länderübergreifendes Panorama. Doch trotz aller Verwerfungen verwandelte sich der Zwiespalt auch in eine Konvergenz: Am Ende des 20. Jahrhundert waren sich die Menschen in den westlichen Industriestaaten so nah, kooperierten die Eliten nahezu aller Länder so stark wie nie zuvor – ein eindrucksvoller Fortschritt im Vergleich zur Zeit um 1900, und ein Befund, der angesichts heutiger Ereignisse nachdenklich stimmt.
Rezension: Prof. Dr. Rainer Hering