Alles hing an § 32: Auf Drängen Bismarcks war das Verbot von Abgeordnetendiäten in die Reichsverfassung von 1871 aufgenommen worden. Böse Zungen behaupten, der eiserne Kanzler habe damit das lästige Parlament am Arbeiten hindern wollen. Wohlmeinendere führen an, daß der Aufwand für einen Abgeordneten in der Anfangszeit überschaubar war. Bis zur Jahrhundertwende aber hatte sich die Zahl der Sitzungstage von 94 auf 181 fast verdoppelt. Und tatsächlich berieten Reichstag, Bundesrat und Reichsleitung seit 1901 über eine mögliche Honorierung der Abgeordenten. Doch nun trat ein unerwarteter Zwischenschritt ein: Ein Zolltarifabkommen sollte die Handelsbeziehungen zu wichtigen Nachbarländern neu regeln. Früh zeichneten sich Schwierigkeiten im Reichstag ab, weshalb ein kleiner Ausschuß einen Kompromiß aushandeln sollte – und diese Kommission sollte Diäten erhalten. In der ersten Lesung des Gesetzes am 28. April 1902 zeigten sich überraschenderweise die sonst vehement für eine Entschädigung plädierenden SPD-Abgeordneten als äußerst kritisch. Sie befürchteten, daß durch die Gewährung der Diäten an die Kommissionsmitglieder die allgemeine Diätenregelung verschleppt würde. Eindringlich mahnte der SPD-Abgeordnete Paul Singer, die Befürworter sollten sich überlegen, ob sie „für das Linsengericht der Kommissionsdiäten das Erstgeburtsrecht auf allgemeine Diäten verkaufen wollten“. Sie wollten. Am 2. Mai passierte das Gesetz den Reichstag, erstmals erhielten Abgeordnete in Deutschland Diäten. Die Kritiker freilich behielten Recht: Es dauerte vier weitere Jahre, bis durch eine Änderung von § 32 alle Parlamentarier in den Genuß einer Aufwandsentschädigung kamen.
28. April 1902
Erste Lesung über erste DiätenTeilen: