Das Gefühl, den Gesetzesdschungel selbst als Fachmann nicht mehr durchschauen zu können, beschlich auch schon die spätantiken Juristen. Zu widersprüchlich waren viele alte Urteilssprüche, und welchem von ihnen sollten sie den Vorzug geben? Ähnlich wie heute in der anglo-amerikanischen Welt war das römische Rechtssystem kasuistisch: Es gab kein Gesetzbuch, das allgemeingültige Regeln aufstellte; entschieden wurde von Fall zu Fall. Man berief sich auf berühmte Vorgänger und deren Ansichten. Bereits um 200 hatten Rechtsgelehrte die Äußerungen älterer Experten zusammengestellt und durch eigene erweitert. Hinzu kamen Urteile der Kaiser, die frühere Entscheidungen auch aufheben konnten.
Dieser Wildwuchs führte schon im 3. Jahrhundert zu einer zunehmenden Verunsicherung der Anwälte und Richter. Aber erst unter Theodosius II. und Valentinian III. gelang der entscheidende Schritt: In ihrem sogenannten Zitiergesetz legten sie am 7. November 426 fest, woran sich die Zeitgenossen orientieren sollten: Mehrere der bedeutendsten Juristen früherer Zeit erhielten automatisch Gesetzeskraft zugesprochen; auf sie konnte sich jeder erfolgreich berufen. Doch diese „Weisen“ stimmten untereinander nicht immer überein. In einem unklaren Fall sollte daher die Stimmenmehrheit dieser Autoritäten entscheiden; stand es unentschieden, war die Ansicht des Julius Paulus, einer Rechtskoryphäe des 3. Jahrhunderts, ausschlaggebend. Bis zum Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian von 533 diente diese Regelung als verlässlicher Leitfaden.