Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft sprechen über historische Gestalten, die sie beeindruckt haben. In dieser Ausgabe: der Publizist Günter Müchler über Napoleon Bonaparte.
DAMALS: Wann haben Sie erstmals von Napoleon gehört? Günter Müchler: Ich habe als Schüler im Bücherschrank meines Großvaters Friedrich Sieburgs „Napoleon“ entdeckt. Die Rückkehr von Elba erschien mir als wunderbares, einzigartiges Abenteuer.
DAMALS: Was hat Sie noch beeindruckt? MüchlerNapoleon kam aus dem Nichts. Alle, denen man das Attribut „groß“ in der Geschichte gegeben hat – Alexander, Karl, Friedrich II. –, waren Erben. Napoleon dagegen war Schöpfer. Er schuf sich selbst ganz und gar. Gewaltig im Aufstieg, ebenso gewaltig im Untergang.
DAMALS: Er war aber auch Tyrann … Müchler: Napoleon war ein Diktator, aber seine Herrschaftspraxis war nicht repressiver als zeitüblich. Ihn als kriegswütig hinzustellen, ist falsch. Den Krieg hatte er geerbt. Dessen Ursprünge lagen in den Annexionen der Revolutionszeit und der Entschlossenheit der europäischen Höfe, die gefährlichen Ideen, die aus Frankreich kamen, auszu‧löschen. Als Napoleon an die Macht kam, ging der Krieg ins achte Jahr.
DAMALS: Napoleon hat den Krieg bis nach Russland ausgeweitet … Müchler: Das war fatal. Ihm fehlte die letzte Stufe zur Größe, nämlich die Kraft, im Erfolg maßzuhalten. Eine weitere Ursache seines Scheiterns ist, dass er keine langfristige Konzeption besaß. Er war und blieb der Mann der Gelegenheiten. Gescheitert ist Napoleon schließlich auch am Grundgesetz Europas: Auf die Dauer hat dieser Kontinent noch jeden Dominator in die Knie gezwungen.
DAMALS: Hat er Bleibendes hinterlassen? Müchler: Napoleon hat fundamentale Errungenschaften der Französischen Revolution gerettet und verstetigt, etwa die Gleichheit vor dem Gesetz. Er hat die Gegenrevolution verhindert. Außerdem war er ein großer Modernisierer. Unter seiner Herrschaft bekam Europa einen Sauerstoffschub. Davon profitierte auch Deutschland. Man denke an den Code civil, der im Rheinland bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetz‧buches Geltung hatte.
DAMALS: Seine Persönlichkeit und Leistungen in zwei, drei Stichworten? Müchler: Ein beachtlicher Gesetzgeber. Ein grandioser Feldherr. Ein erstaunlich vorurteilsfreier Staatsmann.
DAMALS: Also ein politisches Vorbild? Müchler: Vorsicht mit Vorbildern! Auf die Frage, was man heute von ihm lernen könnte, würde ich sagen: Dass man sich als Politiker nie hinter dem scheinbar Unverrückbaren verschanzen darf. Das heutige Modewort „alternativlos“ wäre ihm nicht eingefallen.
Interview: Dr. Winfried Dolderer