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Vinland-Rätsel gelöst

Otto der Große

Vinland-Rätsel gelöst

Zwei altnordische Sagas, die Saga von Erik dem Roten und die Grönländer-Saga, erzählen von Fahrten der Wikinger um das Jahr 1000 nach einem westlich von Grönland gelegenen „Vinland“. Und tatsächlich: Es ist inzwischen eindeutig erwiesen, dass die 1960 an der Nordspitze der kanadischen Insel Neufundland in der Nähe des heutigen Ortes L’Anse aux Meadows entdeckten Siedlungsspuren zu einer um das Jahr 1000 angelegten Wikinger-Siedlung gehören. So steht nun fest, dass die Vinland-Fahrten eine historische Tatsache sind und Wikinger von Grönland aus etwa 500 Jahre vor Kolumbus zumindest einen Zipfel Nordamerikas erreicht haben.

Nach Abschluss der Ausgrabungen in der Wikinger-Siedlung von L’Anse aux Mea-dows (im Folgenden als LAM bezeichnet) und nach Forschungen der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen, die sich fast ein halbes Jahrhundert hinzogen, kann nunmehr aber auch das sagenhafte Vinland identifiziert und lokalisiert werden.

Als man LAM entdeckte, wurde zunächst angenommen, dass diese Siedlung mit dem in den Sagas genannten Vinland identisch sei. Die intensiven Forschungen haben aber ergeben, dass LAM nicht Vinland ist, sondern in Vinland lag. Während die Grönländer-Saga nur eine Vinland-Siedlung erwähnt (Leifsbudir bedeutet Leifs Hütten), berichtet die Erik-Saga von zwei Örtlichkeiten: Straumfjord (Fjord der Strömungen) im Norden und Hóp (Strandsee, Gezeiten- Lagune) im Süden.

Inzwischen konnte nachgewiesen werden, dass Leifsbudir ganz offensichtlich eine Kombination von Straumfjord und Hóp ist: Nach der in der Erik-Saga überlieferten Schilderung entspricht Leifsbudir in der äußeren Erscheinung weitgehend Hóp: eine seichte, von Sandbänken geschützte Gezeiten-Lagune mit einem darin mündenden Fluss sowie mit Wein und Wäldern in der Umgebung. Hinsichtlich der Funktion als Basislager, von dem aus Fahrten in verschiedene Richtungen zur Erkundung und zum Einbringen der Naturschätze von Vinland unternommen wurden, und als Überwinterungsort hat Leifsbudir die Qualität von Straum‧fjord. Straumfjord aber ist mit LAM identisch.

Dafür spricht, dass die Errichtung einer solchen aus insgesamt acht Gebäuden bestehenden substantiellen Ansiedlung, die etwa sieben bis zehn Prozent der damaligen gesamten Wikinger-Bevölkerung von Grönland für einige Jahre gebunden hat, schon aus personellen Gründen nicht mehrmals verwirklicht werden konnte, handelte es sich bei diesen Personen doch um die jungen und damit arbeitsfähigsten Männer. Auch war LAM keineswegs eine unbekannte und namenlos gebliebene Wikinger-Siedlung. Es ist nämlich höchst unwahrscheinlich, dass ein materiell wie personell derart bedeutsames Werk wie Straumfjord-LAM in den Sagas unerwähnt geblieben sein sollte.

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Nach den Sagas haben die Wikinger Fahrten auch in den Süden von Vinland unternommen. Dort befand sich das Sommerlager Hóp. Dass auch diese Fahrten entlang der nordamerikanischen Ostküste tatsächlich stattgefunden haben, konnte durch an sich völlig unspektakuläre Fundobjekte in LAM nachgewiesen werden. Bei diesen Objekten handelt es sich um die Früchte (butternuts) des nordamerika‧nischen Weißen Walnussbaums (Juglans cinerea). Diese Baumart gab und gibt es aber nicht in Neufundland. Ihre nördliche Verbreitungsgrenze ist der 47. Breitengrad im Tal des St.-Lorenz-Stroms im Nordosten der heutigen kanadischen Atlantikprovinz New Brunswick.

Außerdem wurde in LAM ein mit einem eisernen Messer etwas bearbeitetes, aber dann weggeworfenes Astknotenstück von einem Weißen Walnussbaum ausgegraben. Eisen besaßen damals aber die Ureinwohner in dieser Gegend Nordamerikas nicht, wohl aber die Wikinger. Die Wikinger müssen daher zumindest die erwähnte Atlantikküstenregion aufgesucht haben.

Doch noch in einer anderen Hinsicht sind diese Walnuss- und Walnussholzfunde höchst aufschlussreich: In derselben Gegend, in der die Weißen Walnussbäume wachsen, ist nämlich auch der wilde Wein beheimatet. Der Wikinger, von dem die in LAM gefundenen Walnüsse oder das Holzstück aufgesammelt worden sind, muss auch den wilden Wein gesehen haben. Damit löst sich ein weiteres Vinland-Rätsel: Der Saga-Bericht von Wein in Vinland entspricht den Tatsachen, und bei der dort genannten vínber handelt es sich tatsächlich um Reben und nicht um irgendeine andere Beerenart. Weiterhin lässt sich aus dieser Erkenntnis folgern, dass Vinland (mit langem „i“) tatsächlich „Wein-Land“ heißt und nicht „Gras-Land“ (Vinland mit kurzem „i“).

Noch ein anderes Vinland-Problem, an dem die Wissenschaft seit langem herumgerätselt hat, lässt sich jetzt lösen. In den Vinland-Sagas wird berichtet, dass man die Rebenstämme fällte und damit die Schiffe belud. Dabei dachten Wissenschaftler und Laien an europäische Rebstöcke, deren Fällen und Ausfuhr nach Grönland jedoch keinen Sinn macht. Was die Wikinger in Vinland nämlich suchten und in Grönland brauchten, aber dort nicht hatten, war Bauholz, das heißt große (Hartholz-)Baumstämme. Bei dem wilden Wein in Vinland handelt es sich jedoch um die sogenannte Flussuferart (Vitis riparia ). Diese windet sich an Wirtsbäumen bis in deren Krone hinauf, und diese Wirtsbäume sind das in den Sagas genannte und von den Wikingern gefällte vínvíðir (Weinholz).

LAM war das Basislager, von wo aus die Wikinger ihre Fahrten auf der Suche nach den begehrten Naturschätzen von Vinland (vor allem Bauholz, Pelze, aber auch Wein und Nüsse) unternahmen und wo sie die eingebrachten Produkte zur Verschiffung nach Grönland sammelten. Die Siedlung besteht daher auch ausschließlich aus Wohn- und Werkstätten mit ungewöhnlich großem Lagerraum. Die Funktion von LAM als Einfallstor nach Vinland bezeugt die zunächst unverständlich erscheinende Lage an der westlichen statt an der östlichen Seite der Nordspitze Neufundlands, zum St.-Lorenz-Golf hin bzw. an der Belle-Isle-Meerenge und zudem an einer ungeschützten Bucht, obwohl sich im Westen der Landspitze zahlreiche geschützte Buchten befinden. Die Wahl dieser Örtlichkeit für ein Basislager erklärt sich und macht dann auch Sinn, wenn man davon ausgeht, dass die Hauptrichtung der Wikinger-Fahrten auf der Suche nach den Naturschätzen von Vinland in die St.-Lorenz-Bucht ging. Dahin wird man aber durch die Belle-Isle-Meerenge im Nordosten der St.-Lorenz-Bucht zwangsläufig gelenkt.

Die St.-Lorenz-Bucht selbst bildet eine Art Binnenmeer, das man umfahren konnte, wobei die Fahrt jeweils in LAM begann und endete. „Vinland das Gute“ der Sagas, so der jetzige wissenschaftliche Befund, war keine einzelne Siedlung, sondern umfasste die gesamte Küstenregion entlang dem St.-Lorenz-Golf. Hier fanden sich nämlich räumlich dem Basislager in LAM am nächsten die von den Wikingern begehrten und bereits erwähnten Naturschätze.

Auch die für Hóp geschilderten natürlichen Gegebenheiten lassen sich hier finden. So sind Meeresarme und flache Gezeitenstrandseen hinter Sandbänken an Flussmündungen charakteristisch für die Küste im nordöstlichen New Brunswick. Allerdings hätten die Wikinger zum Beispiel Walnüsse und Wein, die in der Wikinger-Gesellschaft einen hohen materiellen und einen Prestigewert besaßen, auch weiter im Süden finden können. In der Vergangenheit ist daher Vinland vor allem in den heutigen Neuengland-Staaten verortet worden.

Doch dann stellt sich die Frage, warum die Wikinger für dieselben Güter eine längere Fahrt hätten auf sich nehmen sollen, zumal dafür nur die Sommermonate zur Verfü-gung standen und in dieser Zeit häufig auch noch eine Rückfahrt nach Grönland eingeplant werden musste. Ein weiteres Gegenargument sind zudem die Fellboote der Ureinwohner in Vinland, von denen die Vinland-Sagas an mehreren Stellen berichten. Derartige Kanus gab es bei keinem Indianerstamm in irgendeinem der späteren Neuengland-Staaten. Dagegen besaßen die Mi’kmaq-Indianer im heutigen New Brunswick und in Nova Scotia Fellboote.

Offen ist weiterhin und wird es wohl auch bleiben, wie weit die Wikinger entlang der Ostküste Nordamerikas nach Süden gelangt sind. Alle bisher in Nordamerika gefundenen angeblichen Wikinger-Zeugnisse haben sich entweder als Fälschungen erwiesen, wie der angebliche Runenstein in Kensington (Minnesota), oder sie sind als Objekte europäischer Herkunft identifiziert worden, wie etwa der angebliche Wikingerturm in Newport (Rhode Island), bei dem es sich um den Überrest einer ehemaligen Windmühle aus dem 17. Jahrhundert handelt.

Quelle: Dr. Birgitta Wallace/Prof. Dr. Gerhard E. Sollbach
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